Anton Mantler (1929-2018), Engelmannsbrunn

Etwa ein Jahr nach Kriegsende fand in Engelmannsbrunn eine Hochzeit statt. Einige Burschen wollten, wie es üblich war schießen, es gab aber so kurz nach dem Krieg keine Böller. Bei Kriegsende hatten die deutschen Soldaten den Ort überstürzt verlassen und Pistolen, Gewehre, Handgranaten, Panzerfäuste und Munition einfach in den Graben geworfen. Die Burschen hatten sich dies alles geholt. Mich selbst interessierte das nicht, ich nahm mir nur eine Pistole, wir hatten genug Gewehre zu Hause, da mein Vater Jäger war.

Ein erst 14 Jahre alter Bursch kam nun auf die Idee, mit dem Karabiner zu schießen. Er zielte in Richtung Kirchberg. Die Kugeln gingen dort direkt neben der Polizeistation nieder. Die Gendarmen wollten nun sehen, was es da in Engelmannsbrunn für eine Schießerei gäbe und kamen mit dem Rad herüber.

Bei unserem Haus hielten sie an, da mein Vater Bürgermeister war. Mein Bruder Ernst, der ebenfalls geweckt wurde, rief vom Fenster hinunter: „Es Trottln, weckt’s net de Leit in der Nocht auf, geht’s, zu die, die geschossen hab‘n.“, denn mein Bruder und ich waren zu Hause im Bett gewesen. Mein Vater, der Bürgermeister war  meinte, sie sollten alles auf sich beruhen lassen, da ja nichts passiert war, doch sie fuhren zum Haus des Schützen weiter. Er musste gleich auf den Posten nach Kirchberg mitfahren.

Angeblich hatte er hinter dem Jackenkragen noch ein Hakenkreuz anstecken, daher wurde er gleich nach Tulln zur russischen Kommandantur gebracht. Dort fragten sie ihn nach den Waffenbesitzern aus, und wer der Rädelsführer sei. Da ich bei allen möglichen Streichen immer die Ideen hatte und die anderen anführte, nannte er mich – wobei ich in diesem speziellen Fall gar nicht dabei war. Es gab bei uns eine Hausdurchsuchung, bei der ein  kaputter Karabiner gefunden wurde, den ich vom Acker mitgenommen hatte. Auf der Kommandantur in Tull argumentierte ich, damit könne man nicht schießen, die Antwort war, aber erschlagen könne man damit jemanden.

So kamen mein Bruder Ernst, der Schütze von der Hochzeit und ich vor das russische Kriegsgericht in der Schiffamtsgasse im 3. Bezirk in Wien.

Wir wurden alle drei verurteilt: Leopold bekam sieben Jahre, ich sechs Jahre und mein Bruder fünf Jahre Arrest. Über Ödenburg (Sopron, H) wurden wir getrennt nach Lemberg (Lwiw) in der Ukraine gebracht – ich sah die beiden während meiner Inhaftierung nicht mehr wieder.

Zu essen gab es täglich ein kleines Stück Brot und etwa ein Seitl (0,33 l) Wasser. Ich war 16 Jahre alt und der einzige deutsch sprechende unter den etwa hundert Leuten. Zwei ukrainische Burschen mit etwa zwanzig Jahren wollten von einem ausgemergelten Mann das Brot, der es ihnen widerstandslos gab. Am nächsten Morgen war er tot. Mit einem zweiten schaffte ich ihn vor die Baracke. Ich ärgerte mich über mich selber, weil ich ihm nicht geholfen hatte. An diesem Tag wollten die beiden Ukrainer mein Brot. Ich schlug auf den ersten mit der Faust ein, so fest ich Bürschlein nur konnte. Er fiel um und auf den zweiten drauf, sodass sie beide am Boden lagen. Ich dachte, nun sei meine letzte Stunde gekommen, doch sie ließen mich von nun an in Ruhe, auch die anderen waren sehr freundlich zu mir.  Was ich dabei herausfand: In Russland wird der verachtet, der sich nicht selbst helfen kann, man hilft ihm auch nicht. Was ich im Laufe der Zeit noch herausfand: Die Russen waren faul, die Ukrainer gehässig. In Lemberg blieb ich einige Monate. Hatte ich mir anfangs vorgenommen, nicht russisch zu lernen, da ich ja nichts verbrochen hatte und unschuldig war, lernte ich die Sprache notgedrungen doch, und zwar sehr schnell. Bald sprach ich russisch so gut, dass niemand merkte, dass ich Ausländer war.

Nach diesem Aufenthalt wurden wir per Bahn mit einem Viehtransport 4800 km nach Kemerow (Kemerowo) in Westsibirien an die Tom verfrachtet. Dort gab es Garnichts, nur Steppe und im Sommer mannshohes Gras. Ich dachte an Flucht, doch die anderen sagten, das sei unmöglich in diesen Weiten, also verwarf ich diesen Gedanken gleich wieder. Hier traf ich einen der wenigen deutsch sprechenden Leute, die ich während meines ganzen Aufenthaltes in Russland traf. Er war Wolgadeutscher und in meinem Alter. Alle Bewohner der 46 deutschsprachigen Orte aus seiner Gegend waren nach Sibirien deportiert worden.

Unser etwa hundert Mann starker Trupp wurde in schon bestehenden Baracken untergebracht. Unsere Aufgabe war es, neue Baracken für weitere Gefangene zu errichten. Alles musste händisch gemacht werden, es war eine schwere Arbeit. Zu essen gab es täglich 30 – 40 dkg Brot, Brei und eine Suppe, die nur trübes Wasser war. Wenn es Erbsensuppe gab, musste man froh sein, wenn man 2 oder 3 Erbsen darin fand. An Arbeitstagen gab es 50 dkg Brot.  Das Wasser konnte nur abgekocht getrunken werden, aber immerhin so viel man wollte.

Später wurden wir mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Krasnojarsk gebracht, etwa 500 km östlich von Kemerowo. Auch hier bauten wir wieder Baracken.

Da die Russen durch den Kommunismus gewöhnt waren, nur das zu machen, was ihnen angeschafft wurde, waren sie sehr träge. Ich konnte aber nicht immer nur sitzen und warten, bis der Obere etwas befahl, ich fing gleich die notwendigen Arbeiten an und riss die anderen mit. So war ich in allen Lagern nach kurzer Zeit ein kleiner „Chef“ und hatte 10 bis 15 Leute unter mir. Die Oberen gaben ihre Befehle nur mehr an mich weiter.

In Sibirien sind die Winter unendlich lang. Die Flüsse gehen erst im Mai auf. Bis minus 40 Grad mussten wir im Freien arbeiten. Wir hatten nur eine Garnitur Kleidung, die wir Sommer und Winter trugen.  Die Russen standen in den Rauchpausen um das Lagerfeuer, um sich zu wärmen, doch ich stand abseits, was sie nicht verstehen konnten.

Als Latrine hatten wir einen Pfosten über einen Graben von 1m x 1m x 10 m angebracht. Eines Morgens wollte ich dorthin gehen, als mir ein Mithäftling große Lederhandschuhe gab und sagte, ich solle sie vor das Gesicht halten, wenn ich atme, sonst erfriere ich mir das Gesicht, denn es hätte 72 Grad minus. Ich hielt das nur für so dahingesagt, doch Jahre später, schon lange wieder in der Heimat, hörte ich sogar im Fernsehen von diesem Temperaturminimum, das ich persönlich miterlebt hatte.

Im nächsten Frühjahr ging es etwa 2000 km direkt nach Norden, in die Nähe von Norilsk, das noch 300 km nördlich des nördlichen Polarkreis liegt. Es hieß, wer einmal dort oben ist, kommt nie mehr weg. Es gab keine Straße  hin, es wäre im Sommer viel zu sumpfig gewesen. Wir fuhren mit einem Frachter den Jenissej flussabwärts. Das Holz, das das Schiff geladen hatte,  luden wir aus, um damit wieder Baracken zu bauen. Als wir hinkamen, war dort nur öde Landschaft. Im Winter fror der Fluss zu und es gab keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Hier verbrachte ich den Rest meiner sechsjährigen Haftstrafe.

Eines Tages ließ mich der Lagerkommandant zu sich rufen. Er teilte mir mit, dass meine Strafe verbüßt und ich frei sei, ich bekam auch ein wenig Geld – doch es gäbe keine Möglichkeit wegzukommen. Ich blieb also vorerst im Lager. Als einziges Dokument hatte ich meine „Entlassungspapiere“ einen A5-Zettel mit Unterschrift und Stempel und meiner Nationalität, den ich noch oft brauchen sollte.

Ich dachte mir: Wir sind mit einem Schiff hergekommen, also muss man damit auch wieder wegkommen. Der Hafen war etwa 20 oder 30 km entfernt. Ich ging also hin und erkundigte mich, ob ich dort arbeiten könne, was bejaht wurde. Also arbeitete ich den Winter über für Essen und Schlafplatz am Hafen mit. Als die Zeit für die Abfahrt des Schiffes gekommen war, fragte ich, ob ich als Arbeiter mitkommen könne. Es war den Kapitänen zwar verboten, entlassene Häftlinge als Passagiere mitzunehmen, doch in meinem Fall wollte er eine Ausnahme machen. Ich ging nochmals ins Lager zurück, um mich von meinen ehemaligen Mithäftlingen zu verabschieden, als mich ein Ukrainer fragte, ob ich nicht ein gutes Wort für ihn beim Kapitän einlegen könne, damit er auch mitfahren könne, was ich auch tat. Wir fuhren nun mit dem Schraubendampfer gegen die Strömung und ich dachte, wir kämen nie in Krasnojarsk an – immerhin waren es wieder etwa 2000 km Fahrt. Wir hatten Kohle an Bord, die in Sibirien im Tagbau abgebaut wurde. Unterwegs sahen wir nur wenige Schiffe, wenn wir am Tag eines trafen, war das schon viel.

Von Krasnojarsk wollte ich mit der Transsibirischen Eisenbahn weiterfahren. Man schärfte mir überall ein, ich solle nie ein russisches Ziel angeben, sondern immer sagen ich wolle „heim“,  denn wenn ich sagte, ich wolle z.B. nach Moskau, würde ich von dort nicht weiterkommen. Auch der Ukrainer wollte mit dem Zug nach Hause. Das Bahnhofsgelände durfte man nur mit der Zugkarte betreten. Der Ukrainer wollte mein Geld, um die Karte zu kaufen. Ich gab ihm einen Großteil meines Geldes, er ging davon und kam bis zum Abend nicht wieder. Ich suchte die Polizei und meldete den Vorfall. Die Polizisten gingen mit mir auf das Bahnhofsgelände, um den Ukrainer zu suchen, aber der war schon über alle Berge.  Meine Entlassungsbestätigung genügte, man setzte mich in den Zug bis nach Novosibirsk, 670 km weiter westlich, wo ich wieder aussteigen musste.

Dort wandte ich mich wieder an die dort patrouillierenden Polizisten. Diese brachten mich zu einem Schalter, wo man mir bedeutete, ich müsse für die Karte arbeiten – aber das wollte ich nun nicht mehr. Ich wollte eine List ausprobieren. Ich wartete am Bahnhof, wo ich mich jetzt aufhalten durfte, da ich mit dem Zug hergekommen war, auf die Ablösung der beiden Polizisten. Ich wollte sehen, was ich bei den beiden nächsten erreichen konnte.  Als sie schließlich erschienen, tat ich, als ob ich gar kein russisch könne und zeigte ihnen mein Entlassungsschreiben. Nach einigem hin und her zwischen den Polizisten und dem diensthabenden Offizier bekam ich eine Freikarte nach Odessa über Moskau.

Ich hatte weder Geld noch zu essen. Doch im Zug reisten viele Familien, die ihr Essen mit hatten. Ich muss wohl ziemlich gierig auf das Essen gesehen haben, denn sie luden mich zum Mitessen ein. Für die etwa 4500 km von Novosibirsk nach Odessa fährt man drei Tage und Nächte. Wie schon gewohnt, suchte ich in Odessa gleich eine Polizeistation. Dort hatte man aber auch keine Ahnung, an wen ich mich wenden sollte. Sie fragten mich, ob ich damit zufrieden sei, im Vorraum der Station auf einem Sofa zu schlafen. Ich war natürlich sofort einverstanden. Dreimal am Tag bekam ich – sehr gutes – Essen. Etwa einen Monat trieb ich mich hier herum und hielt ständig am Hafen Ausschau nach Schiffen, doch keines durfte mich mitnehmen.

Nun wollte ich zurück nach Moskau, um dort die österreichische Botschaft zu suchen. Von den Polizisten erhielt ich Geld für die Karte, ich benutzte jedoch wieder meinen Entlassungsschein und sparte mir das Geld. In Moskau wieder dasselbe Spiel: Zuerst zur Polizei. Die durfte mir aus unerfindlichen Gründen nicht sagen, wo die Botschaft war, also habe ich eine Woche lang selbst gesucht, bis ich sie endlich gefunden hatte.

Ich ging hinein und bevor ich noch viel sagen konnte wurde ich gefragt: „Herr Mantler, sind Sie das? Wir suchen Sie schon seit sechs Jahren!“ Man hat mich gleich zum Botschafter gebracht. Doch der macht mir nicht viel Hoffnung: „Wir haben noch keinen aus Rußland hinausgebracht!“ Mein Problem war, dass ich kein Kriegsgefangener war, sondern ein gewöhnlicher Häftling.

Von der Ausländerbehörde bekam ich Papiere und man bestimmte, dass ich so nicht nach Hause könne, ich müsse zum „Aufpäppeln“ nach Kalinin,  450 km westlich von Moskau. Unterwegs musste ich umsteigen. Als ich gerade auf den Anschlusszug klettern wollte, zog mich ein Gefangenenaufseher mit viel Geschrei herunter. Ohne mich nur anzuhören, brachte er mich in ein nahes Gefangenenlager. Dort zeigte ich dem Offizier meine Entlassungspapiere, dieser sagte ich könne gehen. Wieder am Bahnhof, wollte ich erneut in den Zug steigen, doch der rabiate Aufseher zog mich wieder herunter und nahm mich neuerlich ins Lager mit – er war vorher gleich wieder weggegangen und hatte nicht mitbekommen, dass ich kein Häftling war. Jetzt meinte der Kommandant, er müsse ohnehin zum Bahnhof und brachte mich mit seinem Wagen hin, wo ich endlich in den Zug steigen konnte, der Gott sei Dank ein lange Wartezeit in der Stadt hatte.

In Kalinin angekommen,  ging ich gleich wieder zur Polizei. Meine zuständige Beamtin war Frau Spiridonova. Mit Maschinengewehr brache mich ein Polizist mit der Straßenbahn bis zur Endstation. Dort gab es ein Deutsches Gefangenenlager. Einige Russen waren als Aufseher dort, alles andere erledigten die Deutschen selbst. Ein Pfarrer im Lager fragte mich, ob ich schon mit meinen Eltern Kontakt aufgenommen hätte. Ich verneinte. Ich hatte zwar schon Briefe geschrieben, doch die sind nie angekommen, ich hatte auch keine Post erhalten. Er schrieb nach Deutschland, von wo aus man meine Eltern verständigte. Dieses Lager war für mich wie ein Sanatorium, ich bekam 3 mal am Tag gutes Essen. Doch nach einem halben Jahr musste ich das Lager verlassen. Ich wäre gerne geblieben und mit den Deutschen in die Heimat zurückgekehrt, doch das wurde nicht gestattet.

Frau Spiridonova vermittelte mir einen Arbeitsplatz in einer Gummifabrik, wo man Gummistiefel und Sohlen und ähnliches herstellte. Untergebracht war ich in einer Art Wohnheim mit drei Russen in einem Zimmer. Mein Ansuchen um Heimreise ging von einer Behörde zur anderen, nichts ging weiter. Eines Tages sah ich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit das Schild eines Advokaten. Ich ging hinein und bat ihn, mir zu helfen. Er fand heraus, dass das Außenministerium die richtige Ansprechstelle sei. Nach einer Woche kam bereits der Brief aus Moskau, in dem stand, dass man dort nichts machen könne, ich müsse zum örtlichen Kommissar, etwa wie unser Landeshauptmann, gehen. Die Kommandantur stand an der Wolga und erinnerte mich an unser Parlament. Der Kommissar sagte, in 8 bis 14 Tagen hätte ich meine Papiere. In meiner Naivität glaubte ich ihm, doch meine Zimmergenossen meinten, so genau dürfe ich die Zeitangaben nicht nahmen – und sie sollten Recht behalten. In der Folge ging ich jede Woche einmal zu Frau Spiridonova und einmal zum Kommissar – immer ohne Erfolg. Außerdem musste ich alle drei Monate meine Papiere für meinen Aufenthalt stempeln lassen.

Als nächste Station kam ich nach Wyschni Wolotschok. Ich arbeitete vorerst am Bau. Bei einer Textilfabrik, in der 30.000 Frauen sibirische Baumwolle zu Zwirn verarbeiteten, sollte meine Partie einen fünfstöckigen Anbau herstellen, von dem aus Dampf in die Räume geblasen werden sollte, um feuchtere Luft zu erzeugen, da der Zwirn bei der herrschenden Trockenheit häufig riss. Wie üblich, war ich bald der „Chef“ einer kleinen Truppe von 5 – 6 Mann. Händisch sollten wir wenige Männer den Trakt bis zum Herbst hochziehen. Ich regte beim Bauführer an, doch Frauen aus der Fabrik zur Hilfe abzustellen, was auch geschah. Wir erhielten etwa zwölf Frauen zugeteilt, die fleißig arbeiteten. Als sie der Bauführer bei der Bezahlung nach dem ersten Monat benachteiligen wollte, setzte ich mich  heftig für die Frauen ein, was sich weit und breit herumsprach – ein Russe wäre dafür wahrscheinlich in ein Arbeitslager gekommen.

Schlecht sah es hingegen mit dem Essen aus. Brot, das Hauptnahrungsmittel, gab es in den Geschäften nur am Vormittag, dann war es aus – da musste ich aber arbeiten, also litt ich oft Hunger, bis ich auf die Idee kam, in Gasthäusern nach Brot zu fragen, das übrig geblieben war oder das nicht ansehnlich genug zum Verkauf war. Oft war das nur ein Haufen Brösel, für den ich den normalen Brotpreis zahlte – aber ich hatte zu essen. Einmal kam mir auf der Straße ein Mann mit einem wackeligen, komischen Gang entgegen. Ich dachte, er sei behindert, doch gerade, als er an mir vorbeigehen wollte, sprang sein Hosentürl auf und eine Kette Würste lief heraus. Er wollte sie schnell wieder hineinstecken, doch ich sagte, er solle sie heraußen lassen, ich würde sie ihm abkaufen. So kamen wir ins Geschäft und ich bekam von ihm immer Wurst oder auch Fleisch, das ich mit meinen Mitbewohnern teilte.

Eines Tages sprach mich eine Arbeiterin in der Textilfabrik an, wo ich denn Brot her bekäme. Ich erzählte es ihr, darauf meinte sie, ihre Tante sei Brotverkäuferin und sie könne mir eines für den Abend weglegen. So war auch dieses Problem gelöst. Daneben gab es wenig zu essen, eventuell Kartoffeln oder Kraut.

In der Zwirnfabrik habe ich auch den Gang gepflastert. Ich konnte das zwar nicht, habe aber immer alles ausprobiert und war sehr geschickt. Da ich ohnehin nichts zu essen hatte, hatte ich mich in die Scheibtruhe gelegt, als mich eine Arbeiterin ansprach, was ich am Sonntag machen würde. Da dieser Tag für mich ohnehin er schlechteste war, da ich keine Beschäftigung hatte, nahm ich ihre Einladung zum Essen an. Sie hatte eine Tochter namens Nina, die ein Jahr älter war als ich. Wir kamen uns näher und ich heiratete sie. Zuerst wohnten wir bei den Eltern doch die Schwiegermutter war sehr zänkisch, so zogen wir in eine Art Baracke. Unsere drei Kinder nannten wir Luba, Nadja und Rudi.

Hier in Wyschni Wolotschok lernte ich das Ofensetzen. In den Häusern gab es oft riesige Kachelöfen, die auch zum Schlafen benutzt wurden. Sie füllten oft einen halben Raum aus. Ich war in einer Firma angestellt und führte zuerst mit einer jungen, dann einer älteren Helferin, die Hanuta hieß, Aufträge in der Umgebung aus. Nach meinem Gutdünken konnte ich die Öfen renovieren oder wenn sie nichts mehr taugten, abreißen und neu errichten.  

Hanuta war vor ihrer Anstellung zehn Jahre im Gefängnis gewesen, sagte mir vorerst aber nicht warum. Erst als ich ihren eigenen Ofen neu setzte und wir danach den üblichen Wodka tranken, erzählte sie mir den Grund. Sie war in einem Geschäft gewesen und hatte nicht erhalten, was sie wollte. Sie sagte nur: „Man kriegt ja gar nichts mehr!“ Das hatte hinter ihr ein Falscher gehört, sie wurde verhaftet und so lange eingesperrt.

Eines Tages sollte ich wieder einen Ofen setzen. Das schöne Haus öffnete dem Offizier, bei dem ich so oft wegen meiner Aufenthaltsbewilligung gewesen war, er war aber bereits pensioniert. Ich setzte ihm den Ofen zu seiner Zufriedenheit neu. Beim abschließenden Wodkatrinken fragte er mich, ob ich auch pfuschen würde, was ich bejahte. Er vermittelte mich an seinen Nachfolger, der einen auch neuen Ofen brauchte. Er versprach, mir bei meinem Wunsch nach Hause zu kommen, zu helfen. Er setzte einen Brief für mich auf, den aber ein anderer abschreiben musste, damit man seine Schrift nicht erkannte, sonst hätte er große Schwierigkeiten bekommen. In diesem Brief vermerkte er auch, dass ich schon oftmals in einer Zeitung ähnlich unseres Amtsblattes als fleißiger Arbeiter aufgeschienen sei.

Mittlerweile hatte ich schon die russische Staatsbürgerschaft angenommen und machte mir nicht mehr viel Hoffnung, jemals wieder nach Österreich zu kommen.

Es vergingen einige Wochen ohne Nachricht. Dann wurde ich zur Polizei befohlen. Ich dachte an die ehemalige Verhaftung meiner Gehilfe Hanuta und meinte, sie würden mich wieder einsperren, denn ich machte den Mund oft weit auf, um die Meldungen in der Zeitung oder anderes zu kritisieren. Aber nichts dergleichen geschah. Sie fragten mich lang und breit über meine Einstellung zu Rußland und ähnliches, erst nach zwei Stunden griff der Beamte in eine Lade und überreichte mir überraschend die Ausreiseerlaubnis für meine Familie und mich. Für Nina kam dies nicht überraschend, denn ich hatte  von Anfang an kein Hehl daraus gemacht, nach Hause zu wollen.

Mein Chef freute sich mit mir und ließ mich sofort gehen. Ich verständigte meine Familie in Engelmannsbrunn, mit der ich schon in regem Briefkontakt stand. Mit der Bahn fuhren wir die 2000 km von Wyschni Wolotschok bis Wien, wo uns mein Bruder Ernst abholte.

Das Leben in der Heimat gestaltete sich aber nicht so einfach wie gedacht. Meine Frau, die in Rußland gerne mit anderen Frauen getratscht hatte, konnte sich hier nicht verständigen, da sie nicht deutsch lernte. Außerdem war sie äußerst eifersüchtig, wenn ich das Haus verließ. Unsere Kinder gingen hier zu Schule. Als ich sah, dass das keine Zukunft hatte, ließen wir uns scheiden und meine Frau kehrte  in ihre Heimat zurück. Noch lange hatten wir Briefkontakt. Nina ist inzwischen verstorben. Luba, die ältere Tochter hat mich einige Male besucht. 

Mein Bruder Ernst hatte es weit besser erwischt als ich. Er war in Lemberg geblieben und arbeitete in einer Tischlerei. Als ein hochrangiger Kommunist von einer Bande umgebracht worden war, ging mein Bruder aus Neugierde zu dem Begräbnis. Er wurde gesehen und man dachte, er sei aus Mitleid dort gewesen und entließ ihn nach nur zwei Jahren nach Hause. 

Der Schütze, der meinen Namen angegeben hatte, blieb sieben Jahre in Haft. Er ging mit seiner Familie nach Wien, und ist vor einigen Jahren verstorben. Ich habe ihn nie mehr gesehen, ihm aber mittlerweile verziehen.  

Anton Mantler ist am 10. August 2018 im 90. Lebensjahr in Kirchberg am Wagram verstorben.

 

Juni 2015
Aufgezeichnet von Maria Knapp