Folgender Artikel stammt aus der Pfarrchronik Altenwörth, und zwar aus dem Jahr 1861 und wurde von Pfarrer Karl Grössinger verfasst. Beim Lesen der Zeilen wird man – abgesehen vom altertümlichen Schreibstil – frappant an die Gegenwart erinnert; das heißt: die „gute, alte Zeit“ war auch nicht besser, als die heutige ist!


 

Worauf geht es los? 

Wie viele, viele Jahre den vorausgegangenen nachgeeilt sein werden, und vielleicht in staatlicher und gesellschaftlicher Beziehung ein Zustand der Verlassenheit zu Recht bestehen wird, wobei unter Zulassung Gottes die Gegenwart die Einleitung zu treffen scheint ohne einen folgerichtigen Schluß auf das richtige Wie? zu gestatten, da dürfte es vielleicht für einen oder den anderen meiner Pfarre Nachfolger von Interesse sein einen Einblick in die moralische Weltlage der Jetztzeit machen zu können. Ich will es daher versuchen in schwachen Umrissen zwar, aber dennoch wahrheitsgetreu die selbe zu zeichnen.

Worauf sind die begierlichen Augen der Gegenwart gerichtet, worauf gehts los? Antwort: Auf das Hab und Gut aller, die etwas besitzen. Auf den ersten Ruck des Jahres 1848, wo die aufgepeitschte Volksgier sich über das tausendjährige Mein des Clerus und der Herrschaften stürzte, soll nun der zweite, allgemeine folgen. Als Hebebalken hat man bereits die große Lüge eingeschoben, und damit die Besitzenden den ? dischen Apparat  nicht gewahren, bläst ihnen der journalistische Samen aus allen Weltgegenden glitzernden Saharastaub in die Augen. Man nähert sich des Fortschritts in der Industrie, und niemals  hat es eine größere Armuth gegeben. Man nähert sich des Fortschritts und der Humanität, und es hat niemals mehr Unsittlichkeit unter Christen gegeben, was die Tauf- und Sterbebücher nachweisen. Man nähert sich der neuen Staatseinrichtungen, und es sind Fürsten und Völker ihres Besitzes und Lebens nicht mehr sicher. Man rühmt sich unseres Zeitalters, und nennt es vergötternd "die Höhe der Zeit", und es gleicht seit Jahren einem Vulkan, von dem man nicht weiß, in welchem Augenblicke er alles verschlingen werde. Man prahlt, und macht Aufruhr; man prahlt, und raubt Städte und Länder, man prahlt und vergießt Ströme von Bürgerblut;- man prahlt und knechtet die halbe Welt, man prahlt und zettert; man prahlt, und  hungert; man prahlt und weiß sich nicht zu helfen; man prahlt, und geht zu Grunde. Wahrlich eine wahnsinnige Prahlerei! -

Man soll sich wie im Triumphe in dem Abgrund stürzen, darauf gehts los! Aber woher kommt denn dieß alles? Antwort: Man hat Gott auf die Seite gesetzt und will ohne Gott leben. Man hat den Glauben und die Religion auf die Seite gesetzt, und will ohne Glauben und ohne Religion leben. Man hat die Ewigkeit als Fabel erklärt und will nur für die Zeit leben. Man hat das Gewissen getödtet, und will ohne Gewissen leben. Man hat selbst das Vernünftige in dem Menschen dem Sinnlichen untergeordnet. Man hat die christliche Erziehung verwüßtet und vernichtet, und hofft  von einem ungläubigen Gewissen das ganze Heil. Man hat die Kinder der Mutterhand der Kirche entrissen und sie in die Hände der Miethknechte gegeben. So wurden die Kinder verzogen; so welkt die Jugend heran.; so werden die Ehen entehrt; so wird das Familienleben verwässert; so wird die Bildung zur durchtriebensten Barbarei; so wird es möglich, daß man offen und unverschämt und großartig und offiziell lügen, verleumden, betrügen, rauben, morden, Fürsten und Völker knechten, Kirche und Gewissen tyrannisieren kann, und dafür noch als Beförderer der Zivilisation, der Humanität, der Freiheit und des Glückes bewundert, und mit Ehre und Ruhm bedeckt wird, man will ein gebildetes Heidenthum. Darauf gehts los!

Früher hat man die Lügen unter allerlei Schlagwörter versteckt, wie unter den Ausdrücken: "Fortschritt" – "Wissenschaft" – "Aufklärung" – "Bildung" – "Freiheit" – "Volkswohl" – und "Volkswillen" – "Zeitgeist" – "neue Ära" – usw. und deren Gegensätze: "Reaktion" – "Finsterniß" – "Verdummung" – "Knechtschaft" – "Mittelalter" – usw. . Heute glaubt man dieses Schimmers und Flimmers nicht mehr zu bedürfen, weil die Völker um den Sinn und um das Gefühl für Wahrheit und Recht bereits betrogen sind, und darum lügt man jetzt nackt und offen, dreist und kühn, großartig und der ganzen Welt ins Angesicht, und die Welt nimmt die Lüge verblüfft und sogar bewundernd hin, und schweigt und handelt, wie die Lüge es diktiert. Das ist noch nicht da gewesen, so lange die Welt steht, und darum ist es ein weltgeschichtliches Ereignis, das unsere Zeit besonders characterisiert und mit dem schwärzesten Griffel vom Vater der Lüge in der Weltgeschichte, aber darum auch in das Weltgericht eingegraben wird. –

 

März 2014
Maria Knapp