Der Kirchberger Heinrich Seidl war im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten, dabei hat sich sein Schicksal mit dem einer russischen Adeligen verknüpft, wie in verschiedenen Tageszeitungen im Jahr 1924 nachzulesen war, hier aus der Zeitung „Die Stunde“ vom 27.4.1924: 

 

Tragödie einer Gehetzten, Menschlichkeit bei Gericht

 
Der „Morgen“ hat kürzlich die Tragödie dieser Frau geschildert. Gestern war sie Gegenstand einer Gerichtsverhandlung. Es war eine Verhandlung nach Paragraph 144, aber zur Ehre des Richters und Staatsanwaltes sei gesagt, eine Verhandlung, die menschlich durchgeführt wurde und in der sich alle bemühten, dem unzeitgemäßen Gesetz den bittersten Stachel zu nehmen.
Angeklagt war die Russin Frau Veronika Seidl, nach ihrer Angabe Ärztin von Beruf, und eine junge Schneidergehilfin Hermine. Beide unbescholten.
Hermine K. hatte die Russin zufällig kennen gelernt. Sie bat sie um „Rat und Hilfe“ in ihrer Not, denn ihr drohte die Delogierung und der Vater des zu erwartenden Kindes war arbeitslos. Die Russin selbst war in bedrängter Lage. Aus dieser gemeinsamen schweren Bedrängnis entstand die gesetzwidrige Handlung, die die beiden Frauen vor die Gerichtsschranken brachte.
 
Das Schicksal der Russin.
Frau Seidl erzählte in schlechtem Deutsch ihr Schicksal: Ihr Vater war russischer Fürst, Minister des Zaren. Sie heiratete einen hohen Beamten. Dieser rückte im Kriege freiwillig ein, diente dann in der Koltschak-Armee und fiel in einem Gefechte. Mit vier Kindern blieb sie hilflos zurück. Sie hatte an der Petersburger Universität Medizin studiert und dann ärztlichen Dienst in verschiedenen russischen Kriegsspitälern geleistet.
Beim Umsturz in Rußland mußte sie aus der Heimat fliehen und ihren beträchtlichen Reichtum, darunter auch einige Häuser, preisgeben, da die Bolschewiken sie als Witwe eines weißen Offiziers und Adeligen mit dem Tode bedrohten. In Irkutsk wäre die Drohung um ein Haar verwirklicht worden.
Sie stand schon mit einigen Leidensgefährten an der Wand vor den Gewehrläufen der Rotgardisten, als die Weißen die Stadt einnahmen und nun selbst die Rotgardisten erschossen. Bei diesen Kämpfen starb einer ihrer Söhne vor Schreck an Herzschlag.
Die Bolschewiken gewannen bald wieder die Oberhand, aber Frau Seidl gelang die Flucht nach Omsk, wohin auch ihr zweiter Sohn verschleppt worden war. Dort arbeitete sie eine Zeitlang unbehelligt und unerkannt in einem Spital. Eines Tages machte sie ein Oberkommissär aufmerksam, daß die bolschewikischen  Behörden die Witwe eine Koltschakoffiziers im Sowjetdienst nicht dulden. Sie müsse binnen drei Tagen das russische Gebiet verlassen, sonst sei sie ihres Lebens nicht sicher.
Auf ihre Frage, wie sie dies in so kurzer Zeit zustandebringen könne, sagte er ihr, es gehe in diesen Tagen ein Transport österreichischer Kriegsgefangener in die Heimat, darunter befinde sich auch ein Lediger, der möge sie heiraten. Als seine angetraute Frau könne sie ungehindert mit ihren Kindern die Grenze passieren.
Sie suchte den Mann – es war der aus Kirchberg am Wagram in Niederösterreich gebürtige Hilfsarbeiter Heinrich Seidl – auf und bat ihn, ihr auf diese Weise zu der lebensrettenden Flucht zu verhelfen.
Seidl willigte ein, schloß mit ihr eine Sowjetehe und nahm sie mit zwei ihrer Kinder, einem heute 14jährigen Knaben und einem 12jährigen Mädchen, mit nach Wien. Das dritte Kind, ein Mädchen, das jetzt 18 Jahre ist, blieb in Sibirien.
Im Juli 1921 kam die Russin nach dreieinhalbmonatigem Transporte in Wien an. Sie suchte hier sofort eine Beschäftigung als Pflegerin, fand aber keinen Posten, auch Seidl war die meiste Zeit arbeitslos. Die ganze Familie geriet bald in das größte Elend, es war oft nicht einmal Brot im Hause, und die meiste Zeit lebten die Leute von den Unterstützungen mitleidiger Nachbarn.
In ihrer Bedrängnis ließ sich die Frau herbei, an der Schneidergehilfin Hermine einen verbotenen Eingriff vorzunehmen. Die Hausbesorgerin brachte die Sache zur Anzeige.
Das alles erzählt Frau Seidl stockend und von Tränen unterbrochen. Ihr Bericht wirkte auf alle, die ihn mit anhörten, erschütternd. Sie selbst ist mehr als ärmlich gekleidet und man sieht ihr die Not deutlich an. Als sie verhaftet und ins Landesgericht eingeliefert wurde, mußte sie sofort ins Inquisitenspital überführt werden, weil sie so stark unterernährt war.
Dieser Aufenthalt im Inquisitenspital des Landesgerichts war seit vielen Jahren ihre erste Erholung.
Sie erzählt nun, wie es zu dem Eingriffe kam: Hermine, die selbst ein uneheliches Kind ist, habe sie auf den Knien gebeten, ihr zu helfen: der Bräutigam habe sie verlassen; die Frau, bei der sie wohne, drohe ihr mit dem Hinauswurf, wenn sie ein Kind nach Hause bringe; auch ihren Posten verliere sie, wenn sie ein Kind bekomme.
-Ich habe ihr gesagt, fügt Frau Seidl hinzu, daß wir beide bestraft werden, wenn es bekannt wird.
Richter: Haben Sie gewußt, daß dieser Eingriff in Österreich verboten ist?
-Er ist überall verboten.
Richter: Überall vielleicht nicht. Die Hausbesorgerin hat aber angegeben, daß von Ihnen sehr oft Frauen weggegangen sind, denen man große Schmerzen ansah?
-Sie kann mich nicht leiden, weil ich eine Russin bin.
Nun verliest der Richter ein Hebammen-Diplom der Petersburger Universität.
 
Hermine.
Sie ist 23 Jahre alt und bekennt sich schuldig, antwortet aber auf keine weitere Frage.
Richter: Schauen Sie, Fräulein, Sie müssen Vertrauen haben. Der Richter kann nur dann alles herausfinden, was für den Angeklagten entschuldigend und entlastend ist, wenn er alles weiß. Schämen Sie sich vielleicht, weil Ihr Bräutigam im Saal ist?
Hermine nickt mit dem Kopf.
Da fordert der Richter den Bräutigam auf, den Saal zu verlassen. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, sagt der Richter:
-Wenn ein Bursche mit einem Mädchen ein Verhältnis hat und er sie in andere Umstände bringt, braucht sich doch das Mädchen nicht zu schämen und der Bursch schließlich auch nicht.
Nun erzählt Hermine, daß ihr bei einer Tanzunterhaltung der Name der russischen Ärztin genannt wurde.
Richter: Haben Ihnen die Mädchen gesagt, daß sie sich auch schon bei der Russin einen Eingriff haben machen lassen?
-Nein, es ist nur so davon gesprochen worden.
Richter: Das ist also das Tagesgespräch bei Euch auf den Tanzböden?
-Manche Mädchen sind halt so, daß sie eine Neuigkeit gleich weiter erzählen.
Richter: Das ist leider in Wien keine Neuigkeit.
 
Heinrich Seidl, der Mann der Angeklagten, entschlug sich der Aussage.
Der Staatsanwalt hob alle mildernden Umstände hervor, die für die Angeklagten sprechen…
 
Das Urteil.
Veronika Seidl wurde zu drei Monaten, Hermine zu sechs Wochen strengem Arrest, beide bedingt, verurteilt.

 
Heinrich Seidl wurde am 28.3.1900 in Kirchberg 17 als Sohn des Inwohners Heinrich Seidl und der Maria geb. Kleestorfer geboren.
Im ersten Weltkrieg war er, wie aus obigem Artikel ersichtlich, in russischer Kriegsgefangenschaft und konnte danach nur schwer Arbeit finden.
Heinrich Seidl war mit Veronika nur durch eine Sowjetehe (eine formlose Eheschließung) verbunden, diese Ehe konnte also leicht wieder aufgehoben werden, denn am 7.2.1925 heiratete er in Wien Inzersdorf die Bedienerin Anna Pernklau. Er wird dabei als Hilfsarbeiter bezeichnet.
Heinrich Seidl war auch im Zweiten Weltkrieg an der Front und starb am 12.2.1942 in Oranienburg im Norden von Berlin. Er ruht auf der Kriegsgräberstätte in Güterfelde südlich von Berlin in einem Einzelgrab.
 
 
Matriken Kirchberg am Wagram und Wien, Inzersdorf
 
 
November 2020
Maria Knapp